Ich ziehe den Reisverschluss meiner Regenjacke ganz zu und verkrieche mein Kinn leicht darin. Der Wind pfeift um das Denkmal hinter uns und zieht kurz meine Aufmerksamkeit auf sich.

,,Ich hab eine Frage an dich‘‘, sage ich, ,,Lohnt sich die Unendlichkeit?‘‘

,,Auf keinen Fall‘‘, antwortet er ohne auch nur eine Sekunde über die Frage nachzudenken. Ich ziehe meine Augenbrauen hoch und schaue ihn erwartungsvoll an.

,,Die Schönheit eines Momentes liegt in seiner Einzigartigkeit.‘‘

Ich wende meinen Blick von ihm ab und schaue auf das große Lichterspektakel der Kirmes vor mir. Die Antwort mit einem schon so unzählige Male gehörtem Spruch stellt mich nur mäßig zufrieden.

,,Wenn ein Moment für immer bleiben würde, so wäre er nichts Besonderes mehr‘‘, fährt er fort, ,,Zu wissen, dass kein Moment jemals länger andauern wird als gegenwärtig sorgt dafür, dass wir seine Kostbarkeit wertzuschätzen wissen‘‘.

,,Wissen sollten‘‘, füge ich ihm Gedanken hinzu. Mein Blick ist auf den großen Freefall Turm in der Mitte der Kirmes gerichtet. Ich beobachte den sekündlichen Wechsel seiner grellen Farben von blau zu pink.

,,Oh, eine Sternschnuppe‘‘, ruft er begeistert. Ruckartig werfe ich meinen Blick nach oben in den sternenklaren Himmel, doch von der Sternschnuppe ist nichts mehr zu sehen.

,,Verdammt‘‘, murmel ich in den Kragen meiner Regenjacke. Ich schaue zu ihm rüber wie er ganz entspannt auf der rosafarbenden Decke liegt und in den Himmel schaut.

,,Findest du Unendlichkeit lohnt sich?‘‘, fragt er mich. Ich lasse mich langsam nach hinten fallen und denke kurz nach.

,,Ich weiß es nicht. Irgendwie streben wir Menschen ja unser ganzes Leben danach‘‘, sage ich und beobachte die Vielzahl der Sterne über uns.

,,Das Streben nach Unendlichkeit treibt uns ja auch irgendwie an. Wenn wir uns ein Ziel gesetzt haben, lass es das Finden eines Jobs sein, der uns glücklich macht, oder eine schöne Beziehung, so wollen wir nach Erreichen des Zieles auch das es so bleibt.‘‘. Ich warte ein paar Sekunden auf eine Reaktion von ihm, doch er bleibt stumm.

,,Ich denke, das Streben nach Unendlichkeit gibt uns die nötige Kraft, um an einem Ziel langfristig zu arbeiten‘‘, füge ich hinzu. Ein paar schweigsame Sekunden vergehen.

,,In gewisser Art und Weise hast du damit recht. Trotzdem lohnt sich die Unendlichkeit nicht. So schön ein Moment doch seien mag, sobald er ewig anhalten würde oder sogar nur etwas länger als gegenwärtig, würde die Freude darüber nachlassen und er verliert seine Besonderheit. Dinge kommen und gehen und das ist auch gut so.‘‘. Ich denke kurz über seine Worte nach.

,,Noch eine Sternschnuppe!‘‘, ruft er fröhlich. Enttäuscht schaue ich in den Himmel, wo keine Sternschnuppe mehr zu sehen ist.

,,Ich glaube du hast recht‘‘, sage ich, ,,Manche Momente sind so unglaublich schön gerade weil sie nur ein einziges Mal passieren. Ich bin leider ein Mensch, der viel zu oft versucht etwas krampfhaft festzuhalten, obwohl es schon lange nicht mehr das ist, was es mal war. Ich versuche sozusagen Freundschaften oder Beziehungen einzufrieren an dem Punkt, an dem sie sich wunderschön anfühlen.‘‘

,,Das ist nicht gut‘‘, entgegnet er trocken.

,,Ja, ich weiß. Das ist ein Punkt an dem ich stark arbeiten muss. Das Leben im Hier und Jetzt ist aber auch nicht so einfach, habe ich festgestellt. Die meiste Zeit verbringe ich damit mit aller Kraft Dinge zu erzwingen, die nicht seien sollen oder damit etwas Vergangenem hinterherzutrauern.‘‘

Er schaut zu mir herüber. ,,Aber dann verpasst du ja das meiste‘‘, sagt er mit angehobener Augenbraue.

,,Ja… Schon, irgendwie. Es liegt auch viel daran, dass ich zu viel Denke. Oft verpasse ich die schönen Momente, weil ich damit beschäftigt bin zu planen oder mir eine Zukunft auszumalen, die eh niemals eintreten wird.‘‘

,,Das kenne ich gut‘‘, antwortet er, ,,Ich habe früher auch alles zerdacht und den Großteil des Tages nur in meinem Kopf verbracht. Ich kann dir gar nicht sagen wie ich es geschafft habe, dass es nun nicht mehr so ist. Aber es fühlt sich viel besser an einfach mal den Moment mit allen Sinnen zu erleben anstatt mit den Gedanken schon bei nächstem Dienstag zu sein.“.

Ich schließe die Augen und lasse das Gesagte einen Moment auf mich wirken. Langsam öffne ich wieder meine Augen und spüre den Wind scharf über mein Gesicht entlang sausen. Ich schaue nach oben in den endlos wirkende Sternenhimmel.

,,Voll schön, dass man heute so viele Sterne sehen kann‘‘, sage ich leise.

Er dreht den Kopf in meine Richtung und schaut mich etwas verdutzt über den plötzlichen Themenwechsel an.

,,Guck, eine Sternschnuppe!‘‘, rufe ich begeistert, ,,Und was für eine!‘‘

,,Oh, die hab ich jetzt nicht gesehen‘‘, lacht er und richtet seinen Blick wieder nach oben in den Himmel.

Für eine kleine Ewigkeit liegen wir auf der Decke und schauen wortlos in das wunderschöne Sternenzelt. Es fliegen noch zwei weitere Sternschnuppen am Himmel vorbei, bis ich mich schließlich wieder in den Sitz aufrichte. Vor uns am Fuße des Berges, auf dem wir nun schon seit Stunden sind, ist es noch immer grell beleuchtet durch die Kirmes. Doch mein Blick verharrt dieses Mal nicht auf die hypnotisierenden Neonlichter, sondern streift langsam über das riesige Panorama, welches sich vor uns erstreckt. Für einen Moment fühlt es sich an, als sei mein sonst so vor Gedanken überquellender Kopf vollkommen leergefegt. Ich spüre wie der Wind an meinem Gesicht vorbeisaust und ich hebe mein Kinn aus dem Kragen der Regenjacke hervor, um ihn noch deutlicher spüren zu können. Ich drehe meinem Kopf in seine Richtung.

,,Danke‘‘, sage ich. Er hebt den Kopf vom Boden an und schaut mich an.

,,Wofür?‘‘, fragt er verdutzt.

,,Dafür, dass ich diesen Moment mit dir teilen darf‘‘, antworte ich mit einem Lächeln. Sein Blick wird weich und er lächelt zurück.

,,Danke dir auch.‘‘

Text: Lisa Morscheid